Fünf Dinge, die es bei neu zusammengestellten Teams zu beachten gilt
Ob Restrukturierung, Erschließung neuer Geschäftsfelder, Spin-Off oder Start-Up: Die Gründe für die...
Der „sense of urgency“ ist ein echter Evergreen unter Change Managern, Top-Managern und Beratern. Laut Kotter und vielen anderen Change Management Autoren eine Grundzutat für einen guten Change. Change ohne den „sense of urgency“ – das ist wie Bier ohne Kohlensäure.
Allerdings: In unserer Beratungspraxis stellen wir häufig fest, dass …
- Topmanager*innen behaupten, ein echtes Dringlichkeitsbewusstsein zu haben, dies aber aus ihrem Verhalten nicht wirklich ableitbar ist
- Führungskräfte es zwar schaffen, einen „sense of urgency“ zu formulieren, dieser aber nicht ernst genommen wird, oder noch schlimmer, die Organisation lähmt
- Organisationen keinen „sense of urgency“ formulieren und dennoch erfolgreich Veränderungen gestalten
Deshalb gehen wir näher darauf ein, was unter einem „sense of urgency“ verstanden werden kann, wie er wirkt, was es bei der Vermittlung eines Dringlichkeitsgefühls zu beachten gilt und warum das leider auch allzu oft schief geht – wie Sie anhand unseres Praxisbeispiels sehen werden.
Schauen wir uns zunächst an, was mit „sense of urgency“ eigentlich gemeint ist. Der inzwischen legendäre „sense of urgency”, zu Deutsch “Dringlichkeitsbewusstsein”, wurde von John P. Kotter in seinem Bestseller „Leading Change“ das erste Mal beschrieben. Später veröffentlichte Kotter sogar ein Buch, das er ganz dem Dringlichkeitsbewusstsein widmete.
Kotter beschreibt Dringlichkeitsbewusstsein als das Gegenteil von Selbstgefälligkeit – also als eine konstruktive, wachsame Geisteshaltung, die Mitarbeitende, Führungskräfte oder ganze Unternehmen an den Tag legen können.
Diese Haltung unterscheidet er klar von Panikmache. Diese Differenziertheit geht leider in Vereinfachungen und Übersetzungen immer wieder verloren. Dies führt dazu, dass Führungskräfte auch heute noch das Stiften von Angst und Verzweiflung ganz gerne mal als „sense of urgency“ bezeichnen.
„Sense of urgency“ beschreibt also ein Dringlichkeitsbewusstsein, das sich in einer wachsamen Haltung und in fokussiertem Verhalten äußert. Dieses Bewusstsein kann und sollte möglichst dauerhaft vorhanden sein.
Auch der Aspekt der Dauerhaftigkeit wird häufig missverstanden: Manche Führungskräfte glauben, der „sense of urgency“ würde sie unvermittelt treffen und ihnen eine Art Erleuchtung über die gefährdete Zukunft der Organisation bieten. Ein nettes Bild – aber eben nur ein weiterer Mythos.
Daher: Vergessen Sie das Bild der Change-Epiphanie. Der „sense of urgency“ ist mehr so etwas wie eine intellektuelle Kompetenz, stets aufmerksam zu sein, Informationen zu verarbeiten, Veränderungen zu erkennen und entschlossene Maßnahmen zu unternehmen.
Der CEO eines Mittelständlers lud uns zu Beginn eines Change-Prozesses auf eine Managementtagung ein, um die Stimmung zu Beginn der geplanten Veränderung aufnehmen zu können. Sein Plan für die Veranstaltung war, in den Führungskräften den „sense of urgency“ zu wecken und sie „für die Transformation wachzurütteln“.
Dies sollte gelingen, aber auf anderen Wegen. Der CEO, der erst seit einigen Monaten im Unternehmen war, hatte eine Change Story vorbereitet, die er nun den Teilnehmenden vorstellte. Diese klang verkürzt ungefähr so:
„Wir haben die Zeichen der Zeit verpasst. Unser bisheriges Geschäftsmodell dient uns nicht mehr. Wir brauchen neue Produkte und Dienstleistungen, möglichst digital. Dafür müssen wir den ganzen Laden umkrempeln.“
Zugegeben, die Rede war etwas ausführlicher, doch der Absatz fasst die Botschaften ganz gut zusammen. Der Raum war danach erfüllt von ganz unterschiedlichen Emotionen. Die einen winkten ab, die anderen wirkten erschüttert, die dritten echauffierten sich: „So schlecht stehen wir nicht da. Wieso soll nun auf einmal alles Mist gewesen sein, was wir bisher gemacht haben?“
Der CEO erschrak über die heftigen Reaktionen und ruderte zurück: „Nein, nein – wir hatten und haben gute Zeiten. Doch wir können uns stets weiterentwickeln.“
Zack, da war’s passiert – ein Widerspruch, der sich auch Wochen später nicht aufgelöst hatte. Wie war es denn nun: Müssen wir uns verändern? Oder: Sollten wir uns verändern? Oder: Können wir uns verändern?
Denn, wenn wir nur sollten oder können, dann springen mindestens die Hälfte der Führungskräfte ab. „Sollten“ und „können“ wecken keinen „sense of urgency“.
Sie weisen eher darauf hin, dass das Unternehmen sich kontinuierlich weiterentwickeln muss – eine Selbstverständlichkeit für die Anwesenden, die nun durchschnauften: „So schlimm kann’s um uns nicht stehen, der Chef hat halt mal wieder ein bisschen dramatisiert.“
Der CEO hatte (mindestens) 4 Fehler gemacht, die wir auch anderswo schon beobachtet haben:
Bevor Sie vor Ihre potenziellen Mitstreitenden treten, prüfen Sie sehr gut, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist und ob eine umfassende Veränderung aus Ihrer Sicht wirklich notwendig ist. Und falls ja, stricken Sie dann eine mitreißende Story daraus. Missverstehen Sie den „sense of urgency“ bitte nicht als einen großen roten Dramaknopf, den es permanent zu drücken gilt, um alle auf Trab zu halten.
„Das Neue“ hat nicht immer einen guten Ruf. Auch wenn Sie selbst Veränderungsenthusiast sind, vergessen Sie bitte nicht, dass „das Neue“ immer etwas Bestehendes verändert, das Menschen wichtig ist.
Zeigen Sie daher Respekt für Vergangenes und Gegenwärtiges, suchen Sie nach Geschichten und Zeugnissen, die belegen, dass auch früher schon Veränderungen gelungen sind, und betonen Sie, dass hart gearbeitet wurde, um heute genau hier zu sein.
Das heißt nicht, dass alles gut ist, wie es ist, aber es holt gerade die Leute ab, die länger im Unternehmen sind, und die damit eine Schlüsselposition für den Change einnehmen.
Belegen Sie Ihre Story mit Zahlen, Daten und Fakten. Die erste logische Nachfrage nach der Aussage „Wir müssen uns verändern!“ ist „Warum?“.
Stellen Sie sicher, dass Sie eine nachvollziehbare Antwort parat haben – sonst leidet Ihre Glaubwürdigkeit und damit auch die Glaubwürdigkeit der noch jungen Veränderungsbewegung.
Und: Versuchen Sie diese Belege möglichst erfahrbar und erlebbar zu vermitteln. Was bedeutet es für jeden der Anwesenden wirklich, wenn 5% Marktanteil verloren wurden? Woran wird das bemerkbar, sichtbar, anfassbar?
Setzen Sie sich niemals zum Ziel, Unsicherheit zu stiften. Warum? Ganz einfach, weil Panik entweder lähmt oder zu Fluchtverhalten führt. Das heißt, die Hälfte Ihrer Kollegen*innen wird vor lauter Angst nicht mehr denken und handeln können. Und die andere Hälfte wird schleunigst ihr LinkedIn Profil umstellen auf „Ich bin an Stellenangeboten interessiert“.
Wenn wir in Organisationen kommen, die wir bei deren Veränderungsprozess begleiten dürfen, halten wir stets Ausschau, ob denn ein „sense of urgency“ vorliegt. Typischerweise können wir das an 4 Merkmalen beobachten:
1. Top-Manager*innen haben verstanden, dass sie sich in einer Vorbildrolle befinden. Und sie haben verinnerlicht, dass das nicht bedeutet, alles besser zu können als ihre Mitarbeitenden, sondern, die anstehende Veränderung auch durch die eigene persönliche Weiterentwicklung zu prägen und zu Veränderungsvorbildern zu werden.
2. Die Organisation hat einen klaren Fokus auf die so dringende Veränderung gelegt. Andere Programme und Projekte wurden abgeschlossen, angehalten oder herunterpriorisiert. In Strategiebesprechungen, aber auch in operativen Runden, ist die Veränderung das beherrschende Thema – jeweils natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen.
3. Das Topmanagement hat dafür gesorgt, dass die Organisation intern und extern gut vernetzt ist. Interne Vernetzung bedeutet, dass das Unternehmen wichtige Stakeholder, Expert*innen und motivierte Mitmachende aus unterschiedlichen Hierarchieebenen miteinander verbunden hat.
Externe Vernetzung bedeutet, dass das Unternehmen fachliche und methodische Expertise zu Rate zieht, z.B. durch Recruiting, Partnerschaften oder Beratung.
4. Das Unternehmen stellt ausreichend Ressourcen für die Veränderung zur Verfügung. Das heißt zum Beispiel, dass ein Change Team aus Internen und meist Externen, Vollzeit an der Steuerung und Gestaltung der Veränderung arbeitet und ausreichend finanzielle, zeitliche und fachliche Ressourcen sowie Befugnisse zur Verfügung hat, um kluge Entscheidungen zu treffen und diese schnell umzusetzen.
Aus der Praxis können wir hier teils verrückte Geschichten erzählen: Eine Organisation mit 2.500 Mitarbeitern plante eine umfassende Transformation in Kultur, Strategie und Strukturen – und stellte hierfür 5 Mitarbeitende ab, die jeweils einen Tag pro Woche für die Veränderungsgestaltung Zeit hatten – neben ihren normalen Jobs!
Das Dringlichkeitsbewusstsein ist ein Bewusstsein darüber, dass entschlossen und fokussiert gehandelt werden muss, um eine Krise abzuwehren, eine Chance zu ergreifen oder eine notwendige Weiterentwicklung des Unternehmens voranzutreiben.
Wenn man den „sense of urgency“ so versteht, dann ist er auch eine sinnvolle Zutat für Veränderung.
Versteht man ihn allerdings als gewolltes oder ungewolltes Stiften von „Unsicherheit“, „Angst“ oder „Panik“, so wird er zu einer echten Bremse für Change. Denn Panik lähmt und motiviert nicht.
Seien Sie daher achtsam, wenn Sie versuchen, Ihren eigenen „sense of urgency“ anderen zu vermitteln. Erzählen Sie eine schlüssige und klare Geschichte, die aufzeigt, warum Sie glauben, dass jetzt etwas unternommen werden muss.
Nennen Sie Belege und erklären Sie, warum der Weg hierhin zwar gut war, aber so nicht weitergegangen werden darf.
Vergessen Sie dabei nicht: Ein echtes Dringlichkeitsbewusstsein lässt sich nicht nur an Ihren Worten, sondern vor allem an Ihren Taten ablesen. Wenn Sie ein wirkliches Dringlichkeitsbewusstsein haben, dann werden Sie vollen Fokus auf die Veränderung legen, Ressourcen zur Verfügung stellen, Partner*innen und Experten*innen gewinnen und selbst als Veränderungsvorbild den ersten Schritt machen, um den anderen zu zeigen, dass sie es wirklich ernst meinen.
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Kotter, John P. (1996) Leading Change, Harvard Business Review
Kotter, John P. (2008) A sense of urgency, Harvard Business Review
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