Der
Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, ist derzeit das beherrschende Thema in den Medien; ein historischer Scheideweg, der sowohl in Großbritannien wie auch in der EU bedeutsame Veränderungen mit sich bringen wird. Die Briten haben sich als Mitglied der EU nicht mehr wohlgefühlt, sie wollten Unabhängigkeit von Brüssel, wollten ihre Freiheit und ihren Stolz zurück. Doch irgendwie scheinen die populistischen Versprechungen aus dem Brexit-Wahlkampf nicht einzuhalten zu sein. Denn die Fähnchenführer der „Brexiteers“ verlassen das – so scheint es – sinkende Schiff. Wenige Tage nach ihrem Erfolg treten sowohl Boris Johnson als auch Nigel Farage den Rückzug an. Die ohnehin chaotische Situation in Großbritannien erscheint nun auch noch kopflos. Und währenddessen demonstrieren Tausende Briten in London für einen Rücktritt vom Austritt. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Und wie können Großbritannien und die EU nachhaltige und sinnvolle Lösungen finden? In dieser Notiz möchten wir den Brexit aus der GO-Perspektive betrachten, um
Ursachenforschung zu betreiben. Das bedeutet, wir untersuchen die EU als Organisation auf deren
Stärken und Schwächen in ihren sechs Organisationsdimensionen, um zu verstehen, wieso sich die Briten von der Union abgewandt haben. Außerdem wollen wir
Perspektiven aufzeigen, um die Organisation EU für die Zukunft zu stärken und gesünder für alle Mitglieder zu gestalten.
Klar ist, der Brexit ist eine Reaktion auf die über Jahre angestaute Unzufriedenheit vieler Briten mit der EU. Diese Unzufriedenheit ist ein Symptom. Dessen Ursachen liegen tief verwurzelt in der EU, deren Selbstverständnis und Sinn sowie deren Beziehung zu Mitgliedsstaaten. Schauen wir uns also die EU genauer an und analysieren ihre sechs Organisationsdimensionen. Dabei zeigt sich, dass die EU derzeit einer
Kränkelnden Organisation (s. Abb. 1) entspricht. Die Farben von rot bis grün deuten auf den Gesundheitszustand je Dimension hin: rot entspricht krank, orange-gelb entspricht kränkelnd und grün entspricht gesund.
Abbildung 1: Die EU als Kränkelnde Organisation
Die Gesunde Organisation in der EU
Mitarbeiter/Mitglieder: In der Gesunden Organisation sprechen wir von Mitarbeitern, in der EU würden diese den einzelnen Mitgliedsstaaten entsprechen. Idealerweise sollten diese Mitglieder individuell
gesund und
leistungsfähig sein. Dies entspricht allerdings in vielen Fällen nicht der Tatsache. Viele der Nationen sind wirtschaftlich schwach, hoch verschuldet und politisch zerrissen. Neben den ökonomischen Problemen, die die Leistungsfähigkeit der Mitglieder vermindern, tragen globale Herausforderungen wie die hohen Flüchtlingszahlen zu Angstzuständen und Aggression bei. Die Mitgliedsstaaten sind „gestresst“, sie stehen unter hohem äußeren sowie innerem Druck. Auf internationaler Ebene in der EU zusammenzuarbeiten fällt in solchen Zeiten schwer. Man konzentriert sich eher auf die eigenen Herausforderungen, Probleme hat man schon genug, warum und wie sollte man da auch noch mit anderen Mitgliedern kollaborieren? Ergebnis: krank.
Beziehungen: In unserem Konzept der Gesunden Organisation sprechen wir von
Augenhöhe-Beziehungen als Idealzustand. Doch sind die Beziehungen der EU-Mitgliedsstaaten noch auf Augenhöhe, durch Respekt und Wertschätzung gekennzeichnet? Wohl eher nicht. Bei vielen großen Themen ist man sich uneins, der Wille zur gegenseitigen Unterstützung und synergetischen Kollaboration ist kaum vorhanden. Außerdem begegnen sich die einzelnen Länder schon lange nicht mehr auf Augenhöhe. Gehen wir nach Eric Bernes transaktionaler Analyse (hier verständlich erklärt) und wenden diese auf die Interaktion zwischen den EU-Mitgliedern an, so steht bspw. Deutschland gegenüber Griechenland eher in einem
Eltern-Kind-Verhältnis, als in einem Erwachsenen-Erwachsenen-Verhältnis auf Augenhöhe. Ein gemeinsames politisches Vorgehen, in dem alle Staaten Sicherheit, Bindung und Authentizität empfinden, erscheint so fast unmöglich. Hinter der großen, politischen Bühne agieren die Mitgliedsstaaten oft überheblich und egozentrisch, sie versuchen aus der Union das Beste für sich selbst herauszuholen. Manche machen das durchaus auch auf der Vorderbühne, denken Sie nur an die aktuellen Äußerungen des ungarischen Minsterpräsidenten Viktor Orbán. Ergebnis: krank.
Kultur: Das eben angesprochene Verhalten führt wiederum zu einer
egozentrischen Kultur innerhalb der Organisation EU. Einst durch gemeinsame Werte, Einstellungen und Orientierungen geeint, fokussieren sich die Mitglieder heute wieder eher auf nationale Ansichten, die sie aktiv von anderen Staaten abgrenzen. Dies zeigt sich unter anderem am Aufstieg der rechten Parteien in vielen Ländern. Die eigene Nation steht vor dem Gesamtwohl als Union. Diese Bewegung ist aus der Enttäuschung heraus entstanden, dass die EU ihren Mitgliedern anscheinend nicht wirklich weiterhelfen kann. „Die in Brüssel“ scheinen nichts Gutes oder Sinnvolles für das eigene Land im Sinn zu haben, sie wollen standardisieren und die einzelnen Mitglieder ihrer nationalen Werte berauben. Aus solchen Ansichten heraus lässt sich natürlich sehr einfach rechtspopulistische Propaganda spinnen. Und so driften die Mitglieder immer weiter auseinander, gemeinsame Nenner oder Gründe für die Union, auch als
gemeinschaftliche Wertebasis oder Institution kultureller Vielfalt, scheinen immer karger zu werden. Besonders in der Dimension „Kultur“ scheint die EU also versagt zu haben, sind es doch die
demokratischen Grundprinzipien, der historische Reichtum und die kulturelle Diversität, die Europa einmalig machen und einen sollten. Ergebnis: kränkelnd.
Strukturen: Der Aufbau der EU scheint grundlegend eher starr zu sein. Dies ist allerdings nicht das eigentliche Problem. Trotz
starrer Strukturen könnten sich die EU-Bürger schließlich adäquat vertreten fühlen. Vielmehr stört es viele Mitglieder und deren Wähler, dass die Organisation EU völlig
undurchsichtig erscheint. Auch wenn wir Europawahlen haben, so sind wir uns doch nicht ganz sicher, wie sich das Europaparlament oder die Europäische Kommission eigentlich zusammensetzen und welche Entscheidungen diese Institutionen treffen dürfen. Dies ist ein zentrales Problem, denn Bürger aller Mitgliedsstaaten erhalten den Eindruck, von einem undurchsichtigen Apparat fremdgesteuert und -bestimmt zu werden. Seit Jahren fordern Politiker von der EU mehr Bürgernähe, auch wollen sie Entscheidungsbefugnisse der EU wieder „renationalisieren“. Für Bürger ist die Lage klar: Unsere Politiker gegen die EU-Bürokraten! Doch Moment einmal! Die EU ist schließlich keine weltfremde Maschinerie, sie ist eine Institution, die von ebenjenen Politikern mitgestaltet wird, die sie kritisieren. Und auch hier gelangen wir zu einer zentralen Problemstellung: Die nationalen Politiker wälzen stets unbekümmert die Schuld auf die EU und deren bürokratisch-starre-standardisierende Strukturen ab, machen so, als würden nationalitätslose Roboter eine kafkaeske autoritäre Institution leiten. Anstatt mithilfe der sich bietenden Strukturen Europa gemeinsam zu gestalten, dient die EU den einzelnen Mitgliedern als Ausrede für nationale Probleme. Dies gilt auch für Großbritannien. Die Vorteile der Union in Bezug auf Handel und Wirtschaft rücken im Angesicht der „Flüchtlingskrise“in den Hintergrund, die Bürger/innen und Politiker/innen sehen oftmals eher weniger das große Ganze, das langfristig Systemische, als vielmehr das kurzfristig Negative und Angsteinflößende. Ergebnis: kränkelnd.
Prozesse: Die langsamen Prozesse der EU erscheinen legendär, sie könnten, so denkt man, in ihrer Starrheit und Bürokratie wohl kaum übertroffen werden. Und in der Tat erscheinen die Abläufe und Entscheidungsprozesse der EU sehr
aufgedunsen. Dies ist allerdings auch nicht verwunderlich, muss die Union doch 28 bzw. bald 27 verschiedene Meinungen unter einen Hut bekommen. Dennoch muss die EU zukünftig Wege finden, schneller und effizienter arbeiten zu können. Gelingen kann dies allerdings nur, wenn die einzelnen Mitglieder wieder näher zusammenrücken, kollaborieren, um nicht zu kollabieren. Denn wenn sich wieder gemeinsame Nenner finden, die
Synergie der Union aus der Sicht aller wieder in den Vordergrund rückt, dann können Prozesse auch beschleunigt werden. Wir halten also fest, dass tatsächlich der einende Gedanke fehlt, um den Mitgliedern und der EU bessere Beziehungen, eine gemeinschaftliche Kultur, adaptivere Strukturen und agilere Prozesse zu ermöglichen. Es fehlt also an
Sinn, dem grundlegenden Faktor für Zusammenhalt und Zusammenarbeit in einer Organisation. Und Sinn ist in der Gesunden Organisation in der
Strategie verankert, denn diese funktioniert nur sinngeleitet. Dieser Aspekt wird in Abbildung 2 verdeutlicht, die eine vereinfachte Darstellung unseres Verständnisses der
Strategieevolution zeigt.
Abbildung 2: Strategieentstehung in der EU
Strategie: Wie auch in der Mitteilung der Außenminister der EU-Gründungsmitglieder formuliert, dient der Brexit anscheinend als
Weckruf. Die Außenminister nehmen sich daher vor: „die Aktivitäten der EU stärker auf die zentralen Herausforderungen der Gegenwart aus[zu]richten: die Gewährleistung der Sicherheit unserer Bürger angesichts zunehmender äußerer und innerer Bedrohungen, die Schaffung eines stabilen und gemeinschaftlichen Rahmens zur Bewältigung der Migrations- und Flüchtlingsströme, die Ankurbelung der europäischen Wirtschaft durch die Förderung der Konvergenz unserer Volkswirtschaften, die Erzielung eines nachhaltigen Wachstums, das Arbeitsplätze schafft, sowie Fortschritte in Richtung der Vollendung der Europäischen Währungsunion“ (Auswärtiges Amt, 2016). Die
Vision der EU scheint also klar zu sein, bei den
Praktiken hingegen herrscht Unklarheit, denn die Frage: Wie können wir diese Vision erreichen? bleibt unbeantwortet. Suchen wir jedoch nach dem
Sinn der EU, so werden wir fündig: „das Streben nach Freiheit, Wohlstand und Sicherheit in Europa, […] die Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen seinen Völkern, die von gegenseitigem Nutzen sind, und […] die Mitwirkung an Frieden und Stabilität in der Welt“ (Auswärtiges Amt, 2016). Ein tatsächlich wohlformulierter Sinn, der allerdings nicht zu den EU-Bürgern durchzudringen scheint, denn welcher Europäer würde gegen das Erstreben dieses Sinns demonstrieren? In der Tat scheint das Problem eher in der
Sinnvermittlung bzw. in der
Sinnumsetzung zu liegen. Auch daher haben wir die Strategie der EU in Abbildung 2 mit einem Fragezeichen markiert. Der Sinn ist stark, doch schwächelt in der Umsetzung. Ergebnis: ?
Es ist daher an der Zeit, dass die EU-Mitglieder sich wieder an den Sinn der EU koppeln, dass sie ihr eigenes Selbstverständnis im Rahmen einer europäischen Gemeinschaft wiederfinden und sich
wieder stärker mit der EU identifizieren. Denn mithilfe von
Sinnkopplung (Borck, 2012) können alle gemeinsam, konstruktiv und positiv zusammenarbeiten. Aufgabe der EU muss es daher sein, ihr Sinnangebot wieder besser hervorzustellen und gemeinsam mit ihren Mitgliedern Praktiken zu erarbeiten, um nach diesem Sinn zu streben und die hehre Vision zu erfüllen. Hierfür ist es grundlegend, dass alle Mitgliedsstaaten die EU wieder als
Gemeinschaftsprojekt und nicht als Sündenbock verstehen. Der in Abbildung 2 referenzierte gemeinschaftliche Diskurs hinsichtlich Sinn, Praktiken und Vision muss daher auf Augenhöhe geschehen. Nur wenn alle Mitglieder vom Sinn der EU überzeugt sind, und daher auch davon ausgehen, dass eine starke EU gut für alle ist, kann die Gemeinschaft die ohne Frage großen Herausforderungen dieser Zeit meistern.
Es ist nicht überraschend, dass sich Großbritannien und auch andere Nationen von der EU entfremdet haben, dass sie ihr Heil in der Isolation suchen. Doch gerade in Krisenzeiten, wenn nationalistische Politik der Angst betrieben wird, muss die EU ihren Sinn und ihre Gemeinschaft hervorstellen und sich als Einheit, als Fels in der Brandung, präsentieren. Dies gelingt am besten, wenn der Sinn der Union für alle Bürger deutlich ist, wenn die
europäischen Grundideale stärker motivieren als die Angst vor Unbekanntem. Der Brexit hat auf schockierende Weise gezeigt, dass der eigentliche Sinn der EU zu kurz gekommen ist. Will die EU zukünftige „Exits“ vermeiden, muss diesen Sinn wieder deutlich machen. Koppeln die Mitgliedsstaaten ihren Sinn auch wieder an die Gemeinschaft, so können Beziehungen und Kultur gestärkt, Prozesse beschleunigt und Strukturen adaptiver werden. Die Strategie der Union würde mitglieder- und ressourcenorientierter und die Nationen könnten ihre Leistungsfähigkeit durch synergetische Effekte in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur steigern.
Fazit: Es ist noch ein weiter Weg für eine Gesunden Organisation auf EU-Ebene. Wenn wir versuchen, das Positive im Brexit zu sehen, dann besteht er darin, dass solche Krisen aufrütteln und wachmachen. Und im besten Falle nachhaltige Veränderungen zur Verbesserung der Situation nach sich ziehen werden.
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