Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Hebel, mit dem Sie die Innovationskraft, Anpassungsfähigkeit und Effektivität Ihres Teams oder Unternehmens substanziell steigern könnten! Wäre das nicht fantastisch?
Doch was könnte dieser eine Faktor sein – eine neue agile Methode, ein smartes Anreizsystem, eine Software, ein neues Organisationsdesign? Sicherlich könnten all diese Dinge dazu beitragen, dass Organisationen schneller, agiler oder kreativer werden.
Doch der eine Faktor, der von vielen Verantwortlichen noch nicht verstanden wurde und auf den wir deshalb in dieser Notiz schauen wollen, ist psychologische Sicherheit.
Das Konstrukt „Psychologische Sicherheit“ stammt aus der Feder der Harvard-Professorin und HR-Vordenkerin Amy Edmondson, die bereits 1999 einen ersten Beitrag veröffentlichte, wie sich psychologische Sicherheit auf das Lernen in Gruppen auswirkt.
Darin definiert sie psychologische Sicherheit folgendermaßen: “Psychological safety is a sense of confidence that the team will not embarrass, reject, or punish someone for speaking up”.
Auf Deutsch also: Psychologische Sicherheit bedeutet, dass Menschen sich in einer Gruppe sicher sein können, dass sie nicht blamiert, abgelehnt, verurteilt oder bestraft werden, wenn sie etwas sagen.
Gruppenmitglieder können sich also trauen, zwischenmenschliche Risiken einzugehen und auch Dinge zu tun oder zu sagen, die möglicherweise unpopulär sind. Dazu kann gehören, eine andere Meinung auszusprechen, einen Fehler anzusprechen oder zuzugeben, eine Sorge auszudrücken oder auch eigene Freude oder Stolz mit der Gruppe zu teilen.
Interessanterweise erhielt das Konzept der psychologischen Sicherheit aber erst Jahre später die verdiente Popularität – und zwar als Google 2016 die Ergebnisse des „Projekt Aristoteles“ veröffentlichte.
Auf der Suche nach den Erfolgsfaktoren der besten Teams fanden die Kalifornier heraus, dass psychologische Sicherheit der Faktor ist, der Team-Effektivität am stärksten beeinflusst.
Teammitglieder trauen sich in einem psychologisch sicheren Umfeld eher, Risiken einzugehen und sich verletzlich zu zeigen. Das hat laut Google-Studie positiven Einfluss auf …
… die Bindung von Mitarbeitern eines Teams,
… die Kreativität und Innovativität eines Teams,
… die Wertschöpfung eines Teams (gemessen am Umsatz) und
… die wahrgenommene Effektivität eines Teams.
Denkt man diese Erkenntnisse weiter, so wird schnell klar, dass psychologische Sicherheit auch ein Treiber für Anpassungsfähigkeit ist. Denn psychologische Sicherheit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass agile Teams wirklich transparent arbeiten, die besten Ideen verfolgen, aus Fehlern lernen, neue Beobachtungen und Erkenntnisse teilen und dadurch besser und schneller (re-) agieren können.
Was oftmals in der Diskussion rund um psychologische Sicherheit vergessen wird, ist die Tatsache, dass es neben psychologischer Sicherheit noch eine zweite Zutat braucht, um die oben erwähnten Effekte zu erzielen: Verantwortungsübernahme. Und zwar die kollektive Verantwortungsübernahme eines Teams, seine Ziele zu erreichen.
In ihrem Beitrag im Harvard Business Review aus dem Jahr 2008 zeigt Amy Edmondson den Zusammenhang zwischen psychologischer Sicherheit und Verantwortungsübernahme an einer einfachen Matrix auf und beschreibt vier Quadranten.
Gehen Sie in sich und überlegen Sie für Ihr Team und Ihre Organisation, wo Sie in dieser Matrix stehen.
Offensichtlich sollten Teams und Organisationen nach der Lernzone streben. Hier kann Entwicklung, Innovation und Fortschritt passieren, da Individuen sich in ihren Teams sicher fühlen und gleichzeitig Verantwortung übernehmen, ihre Ziele zu erreichen. So entsteht eine gesunde und produktive Symbiose zwischen Zielorientierung und Verletzlichkeit, Leistung und Sicherheit.
Die schnelle Antwort: Das spüren Sie vermutlich.
Hier dennoch eine kleine Checkliste:
Je mehr ehrliche „Ja“-Antworten Sie geben können, desto eher befinden Sie sich mit Ihrem Team in einem psychologisch sicheren Kontext. Dennoch oder gerade deswegen ergibt es Sinn, dass Sie mit Ihrem Team regelmäßige Retrospektiven durchführen und dabei auch die wahrgenommene psychologische Sicherheit, z.B. entlang der Checkliste, beurteilen lassen – am besten zunächst anonym und unabhängig voneinander.
Egal, ob Sie Ihren Arbeitskontext bereits als psychologisch sicher beurteilen oder nicht – das Etablieren von psychologischer Sicherheit bedarf konsequenter Arbeit und achtsamer Pflege. Daher einige Tipps, wie Sie psychologische Sicherheit in Ihrem Team und Ihrer Organisation fördern können:
1. Zeigen Sie sich verletzlich
Das heißt, teilen Sie einen Fehler oder sprechen Sie darüber, was Ihnen schwerfällt oder was Sie noch lernen wollen. Dabei können Sie klein anfangen. Veränderung passiert in Schritten und es braucht immer Mutige, die sich trauen, einen ersten Schritt zu gehen.
Ziehen Sie sich nicht zurück, wenn Ihre Kolleg*innen nicht reagieren wie erhofft. Es braucht Zeit, bis so etwas Schwieriges wie „sich verletzlich zu zeigen“ auch für größere Gruppen normal wird. Denn wir alle wurden zumindest in unseren Berufskontexten anders sozialisiert. Für mehr Einblick in das Thema Verletzlichkeit empfehlen wir den TEDx Talk von Brené Brown „The power of vulnerability“.
2. Werden Sie zum Neugierde-Vorbild
Versuchen Sie zunehmend, Ihre schnellen Beurteilungen von und Meinungen zu Situationen/Ergebnissen/Zwischenprodukten durch Fragen zu ersetzen. Versuchen Sie, das ehrliche Interesse, das Sie für eine bestimmte Sache haben, auch durch eine ehrlich interessierte Frage auszudrücken statt durch ein vorschnelles Urteil. Es könnte ja passieren, dass Sie dabei was lernen. Oder sogar feststellen, dass es andere Wege zum Ziel gibt. Oder dass Ihre Lösung gar nicht die Beste ist. Das bedeutet nicht, dass Sie sich künstlich verstellen sollen und Ihren Teamkolleg*innen rhetorische Fragen stellen, um sich darin zu bestätigen, dass Sie Recht hatten. Versuchen Sie stattdessen, den Forschergeist in Ihnen zu entdecken und mit einer offenen Haltung in Meetings und Gespräche mit Ihren Kolleg*innen zu gehen. Diese werden merken, dass sie von Ihnen gesehen und ernstgenommen werden – sie werden sich trauen, sich offener mitzuteilen und gehen dadurch motivierter in den Dialog mit Ihnen. Und sie werden selbst neugieriger – denn Entdeckergeist ist ansteckend.
3. Heben Sie Erlerntes vor
Helfen Sie Ihrem Team, Herausforderungen als Lernchance zu begreifen. Fragen Sie immer wieder: „Was haben wir gelernt?“ und sehen Sie das neu Gelernte als Erfolg an.
Damit fördern Sie das frühe Teilen von Fehlern (was enorme Kosten sparen kann), beschleunigen die individuelle Entwicklung und die Ihres Teams, und fördern so die psychologische Sicherheit im Ganzen.
Was „Testosteron-Manager“ gerne mal als Esoterik-Getue oder Harmonie-Gedöns strikt von sich weisen, ist in Wahrheit ein echter Produktivitäts- und Innovationshebel.
Die Gleichung ist einfach: Mitarbeitende, die sich psychologisch sicher fühlen, teilen Fehler und Ideen (früher), sind kreativer, denken und handeln unternehmerischer und hegen seltener Abwanderungsgedanken.
Daher ist es höchste Zeit, dass sich auch auf Vorstandsebene nicht nur darüber unterhalten wird, wie psychologische Sicherheit stärker etabliert werden kann, sondern genau in Vorstandskreisen angefangen wird, psychologische Sicherheit zu erleben.
Nur wer weiß, wie sich das anfühlt, kann es auch authentisch von anderen einfordern. Der Weg dahin ist nicht einfach – aber das war Ihnen ja vorher schon klar – denn Veränderung beginnt immer bei Ihnen selbst.
Edmondson (1999) Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams. Administrative Science Quarterly 44(2):350–383
Edmondson (2008) The Competitive Imperative of Learning. Harvard Business Review
Google re:Work (2016) Understand team effectiveness
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