In unserer letzten Notiz haben wir eine Einführung in skalierte Agilität vorgenommen. Es ging vor allem darum aufzuzeigen, was man unter skalierter Agilität versteht. Im nächsten Schritt fokussieren wir die Historie der Agilisierung, die seit circa 2 Jahrzehnten einen fulminanten Triumpfzug in der Wirtschaftswelt hinter sich hat. Dabei zeichnen sich insbesondere drei Phasen oder Wellenbewegungen ab, die besonders interessant sind.
Die Analyse der Phasen kann Ihnen dabei durchaus helfen, Ihr eigenes Unternehmen besser zu verorten und zu verstehen, was nächste Entwicklungsschritte für Sie, Ihr Team, bestimmte Bereiche Ihres Unternehmens oder das ganze Unternehmen sein können.
Last but not least werfen wir einen Blick in die Glaskugel und wollen einige Gedanken mit Ihnen teilen, in welche Richtung sich agile (Skalierungs-) Praktiken weiterentwickeln könnten – damit Sie sich bereits heute Gedanken machen können, wie Sie Ihre eigene Organisation auf diese vierte Welle der agilen Skalierung vorbereiten können.
Schaut man sich an, wie sich agile Praktiken und Prinzipien entwickelt und ausgebreitet haben, so kann man (vereinfacht) drei Wellen erkennen. Diese bauen aufeinander auf. Typischerweise kann man auch beobachten, dass Unternehmen die drei Wellen nacheinander durchlaufen. Mal schneller, mal langsamer. Und die allermeisten der Unternehmen haben weder die erste noch die zweite Welle bereits gemeistert.
1. Welle: Agile Teams - Optimierung von Teams durch neue Zusammenarbeits- und Projektmanagementmethodiken
Die erste Welle begann mit der Veröffentlichung des Agilen Manifests im Jahre 2001. Im Fokus dieser ersten Welle stand die Optimierung eines Softwareentwicklungsteams durch klare Prinzipien der Zusammenarbeit im Team (z.B. die Anwendung von Retrospektiven und Daily Standups) und die Anwendung neuer Projektmanagementmethoden (z.B. die Nutzung von Product Backlogs und Reviews), insbesondere Scrum.
Viele Branchen befinden sich auch heute noch in dieser ersten Welle. Meist kann man den agilen Reifegrad von Branchen auch an den Digitalisierungsgraden ablesen. Demnach befinden sich in dieser ersten Welle vor allem der öffentliche Sektor, Pharmaunternehmen und Firmen des Gesundheitsweisens.
2. Welle: Agile Teams of Teams – Optimierung von zusammenarbeitenden Teams und einzelnen Geschäftseinheiten
Ein Team of Teams – also ein Zusammenschluss verschiedener Teams zur Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen (z.B. eine Geschäftseinheit) ist komplizierter zu managen als ein einzelnes Team.
Die zweite Agilisierungswelle befasste sich daher vor allem mit der Frage: Wie können wir das, was auf Teamebene funktioniert, auf eine größere Einheit skalieren? Um das Jahr 2007 erschienen die ersten Veröffentlichungen, die sich damit auseinandersetzten, wie agile und schlanke Softwareentwicklung auch in größeren Team-Verbänden funktionieren kann.
Antworten auf diese Herausforderung lieferten unter anderem das SAFe und LeSS-Framework sowie weitere Veröffentlichungen zu agilem Programm-Management.
Mit der zweiten Welle wurde Agilität auch über den Bereich der Softwareentwicklung hinaus relevant, z.B. Operations, Produktmanagement und HR. Unternehmen der Energie-, Versicherungs- und Konsumgüterindustrie befinden sich typischerweise heutzutage in dieser zweiten Welle.
3. Welle: Agile Unternehmen bzw. Business-Agilität – Agilisierung der Unternehmenssteuerung
Nachdem die zweite Welle die vermeintlichen Grenzen agiler Praktiken und Prinzipien bereits aufgelöst hatte, stellte sich dann die Frage: Wie können wir ganze Unternehmen „agilisieren“?
Das bedeutet, als Nächstes wurde die Unternehmenssteuerung, und damit Themen wie Management, Governance, Strategie, Gründung und Geschäftsbetrieb in Angriff genommen.
Ideen wie Management 3.0, Flight Levels und neue Versionen von SAFe sind Zeugnisse der Ausweitung agiler Erkenntnisse auf Gesamtunternehmensebene. Viele Unternehmen der Automobil-, Telekommunikations- Technologie- und Finanzindustrie stellen sich aktuell der Herausforderung, Business-Agilität zu erreichen.
Dazu gehört unter anderem, Strategieentwicklung und -umsetzung inkl. neuer Zielsysteme und Budgetierungspraktiken zu etablieren, Personalprozesse auf neue Personalanforderungen und Führungspraktiken anzupassen, Controlling-Mechanismen zu verändern und die zunehmende Business-IT-Integration weiterzutreiben.
Nach der dritten kommt die vierte Welle – das sehen Sie bereits in unserer Graphik. Die agile Bewegung wird sich weiterentwickeln, sicherlich nicht linear, sondern auf unterschiedlichen Wegen.
Wir haben uns erste Gedanken gemacht, wie eine vierte Welle aussehen könnte und präsentieren hier drei unserer Hypothesen. Wir freuen uns natürlich über Ihre Ideen – was kommt Ihrer Einschätzung nach der dritten Welle?
Hypothese 1: Ein verstärkter Fokus auf soziale und kulturelle statt auf technische Systeme
Die bisherigen Wellen und Modelle zur Skalierung von Agilität waren sehr stark technisch geprägt. Bereits der Ursprung vieler agiler Gedankenströme sind auf Softwareentwicklung und die Lean Management Bewegung zurückzuführen (bspw. Toyota Production Systems).
Auch bei der Skalierung auf ein Team of Teams- sowie ein Business-Level, lag der Fokus eher auf der technischen Bewerkstelligung der koordinativen Herausforderung. Insbesondere SAFe, aber auch Frameworks wie LeSS und Scrum of Scrum sind stark mechanistisch und technisch geprägt.
Der Fokus liegt auf Prozessoptimierung und teils auch der Bürokratisierung, also Verwaltung von wachsenden agilen Systemen. Werkzeuge wie OKRs und Velocity-Messung werden herangezogen, um diese skalierten agilen Systeme auf Hochleistung zu trimmen.
Wir gehen davon aus, dass eine nächste Evolutionsstufe daher durch einen größeren Fokus auf Kulturentwicklung und die Gestaltung der Beziehungen und sozialen Systeme in agilen Organisationen geprägt sein wird.
Wenn wir Menschen uns Systeme schaffen, die irgendwann eher uns beherrschen als wir sie, dann besinnen wir uns zurück auf unsere Menschlichkeit, unser Miteinander und unsere gemeinsame Schaffenskraft außerhalb rigider Prozesse.
Wir können uns daher vorstellen, dass die vierte Welle davon geprägt ist, sich mit Bewegungen und Gedanken wie Selbstorganisation, Purpose, evolutionäre Kulturen, Gemeinschaft, Selbstverwirklichung, verteilte Führung und individuellen Lösungen auseinanderzusetzen und diese in bestehende oder neue Skalierungsframeworks zu integrieren, um den durchdeklinierten skalierten Systemen wieder Menschlichkeit zurückzugeben – und damit Freude, Gestaltungswille, Unternehmertum und Innovation.
Hypothese 2: Eine Erweiterung der agilen Arbeitsweise auf Not-for-Profit-Organisationen und politische Institutionen
Die Anwendung agiler Prinzipien und Praktiken könnte auch außerhalb der Wirtschaft, zum Beispiel in politischen Parteien, (I)NGOs und (I)GOs, Vereinen und Verbänden für Beschleunigung, Vereinfachung, Fokus und Effizienz sorgen.
Gedankenexperiment: Eine Regierung, die im ständigen Dialog mit Bürger*innen in fokussierten, kurzen iterativen Zyklen sichtbare Zwischen- und Endprodukte produziert.
Eine Regierung, die das Land per transparentem Backlog und Reviews auf dem Laufenden hält.
Eine Regierung, die unter Prüfung der Opposition und der Bürger*innen Pilotprojekte durchführt, bevor neue Regelungen gleich im ganzen Land gelten.
In einer vierten Welle könnten also auch Institutionen profitieren, die nicht direkt am wirtschaftlichen Geschehen teilnehmen – und damit dafür sorgen, dass auch gesellschaftliche, humanitäre, ethische und ökologische Herausforderungen gezielter, strukturierter, kurzzyklischer, endprodukt- und „kunden“-orientierter sowie transparenter angegangen werden.
Hypothese 3: Eine Erweiterung der agilen Kollaboration auf ganze Cluster und Wertschöpfungsketten
Wer sein ganzes Unternehmen „durchagilisiert“ hat, kann über die heutigen agilen Systeme meist noch nicht sicherstellen, dass auch seine Lieferanten und Partner synchron im selben Rhythmus arbeiten.
Das bedeutet: Zwar haben Sie Ihre Forschung und Produktentwicklung auf einen monatlichen Rhythmus getrimmt, aber: Ihr Softwareentwicklungspartner arbeitet nach einem vierteljährlichen Rhythmus mit großen „Release Containers“. Ergo: Am Ende müssen Sie eben doch warten und können nicht wirklich leichtfüßig auf veränderte Marktbedingungen oder Kundenanforderungen reagieren.
Agile Systeme der vierten Welle könnten diese Herausforderung beim Schopfe packen und agile Lieferketten- und Partner Management-Lösungen anbieten, die es allen an der Wertschöpfungsketten beteiligten Partnern ermöglicht, einen gemeinsamen Rhythmus und eine gemeinsame Steuerungslogik zu finden, um den gesamten Wertschöpfungsprozess – vielleicht sogar „cradle-to-cradle“-Prozess – zu beschleunigen und effizienter zu gestalten.
Die Methodologie agiler Skalierung entwickelte sich in 3 Haupt-Wellen, die sich vor allem durch einen stetig wachsenden Betrachtungsumfang unterscheiden. Ging es anfangs vor allem darum, einzelne Softwareentwicklungsteams kundenorientierter und anpassungsfähiger aufzustellen, so geht es in vielen Unternehmen heute darum, auf Organisationsebene agile Praktiken und Prinzipien zu etablieren – als Antwort auf eine volatile Außenwelt.
Wie so oft entfernen sich die Kinder bzw. Enkel der Revolution von ihren Ursprüngen. Das ist nicht immer schlecht, oft sogar sinnvoll, weil passender zu neuen Herausforderungen. Allerdings stellen wir in unserer Beratungspraxis fest, dass agile Skalierungsprogramme häufig schwerfällig und bürokratisch anmuten – und eben nicht leichtfüßig, schnell, dynamisch und vor allem kundenzentriert.
Daher: Verlieren Sie Ihre ursprünglichen Ziele, Werte und Prinzipien nicht aus den Augen, wenn Sie Agilität in größeren Systemen etablieren wollen. Spannend wird darüber hinaus zu sehen sein, wie die 4. Welle – falls es sie denn gibt – tatsächlich aussehen wird. Schreiben Sie uns gerne Ihre Gedanken – per Mail, LinkedIn oder Xing.
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