Perspektiven (7) Positive Tipping Points: Wie aus kleinen Ursachen große Wirkungen entstehen können.
Das zurückliegende Jahr hatte etwas zutiefst Verstörendes. Viele Menschen bekannten offen und ohne...
Wie funktioniert Innovation? Kann man sie systematisch entwickeln? Gibt es einen Trick oder ein Muster? Eine Kurzeinführung in die Theorie U mit Übungen zur Umsetzung.
Bei den Untersuchungen zu seiner Forschungsfrage „Wie kommt das Neue in die Welt?“, hat Claus Otto Scharmer Ende der 1990er Jahre ca. 150 Interviews geführt. Er wollte sich der Frage empirisch nähern. Unter den Interviewten gab es Wissenschaftler, Unternehmer, Künstler, Berater, Manager, damals meist Männer, aber auch ein paar Frauen. Aus diesen Gesprächen hat er ein Muster destilliert, dass der Form eines U entspricht. Daher kommt der Name seiner „Theorie U“. Es handelt sich dabei nicht wirklich um eine Theorie im engeren Sinne, sondern eher um ein Vorgehenskonzept oder eine Reiseanleitung zum tieferen Verständnis der eigenen Persönlichkeit und wieder zurück in die Welt.
In diesem Beitrag wollen wir die wesentlichen Stationen auf dieser äußeren Reise darstellen und darüber hinaus die inneren Voraussetzungen beleuchten, die für eine gelingende Reise erforderlich sind. Hier zunächst ein Überblick über die verschiedenen Stationen dieser Reise.
Wir wollen unsere Reise mit zwei Zitaten beginnen:
Wenn wir Innovationen als Lösungen von gegebenen Problemen oder als neuartige Befriedigung von Bedürfnissen verstehen, könnte man annehmen, dass der direkte Weg zwischen Problem und Lösung der Innovationsweg sei. Da man diesen Weg aber nur auf Basis von schon Bekanntem beschreiten kann, führt er sehr selten tatsächlich auch zu wirklich neuen Lösungen.
Eine Erkenntnis der Innovationsforschung ist die, dass die Voraussetzung zur Entdeckung von Innovationen meist darin besteht, sich von Bekanntem und Gewusstem zu befreien. Bekanntes und Gewusstes vernebelt den Blick und hält uns dadurch im Bestehendem und schon Bekanntem verhaftet. So wird verhindert, dass wir wirklich neue Erkenntnisse und Ideen gewinnen. Im U Prozess begeben wir uns auf eine innere und äußere Reise. Dabei wird zunächst in uns eine Bereitschaft und offene Haltung entwickelt, mit der wir die nächsten Schritte im Außen gehen können. Vor diesem Hintergrund ist die erste Station auf unserer Reise die Wahrnehmung unseres mechanistischen, unbewussten Handelns in Standardsituationen (Herunterladen).
Wir sprechen zum Beispiel von Herunterladen (wie bei einer Datei) wenn wir gähnen müssen und automatisch die Hand vor den Mund nehmen. Ein anderes Beispiel ist das Niesen. Während Corona haben wir allmählich gelernt, nicht in die Hand, sondern in die Armbeuge zu niesen, um die Ansteckungsgefahr für andere zu reduzieren. Diese automatischen Handlungen helfen uns in der Komplexität des Alltags viele Aktionen zu automatisieren, damit wir nicht mehr darüber nachdenken müssen um dadurch erheblich effizienter zu werden. Diese automatischen Handlungen helfen uns in der Komplexität des Alltags viele Aktionen zu automatisieren, damit wir nicht mehr darüber nachdenken müssen, um dadurch erheblich effizienter zu werden. Der innere Prozess, bei dem uns klar wird, dass Vieles in unserem Tun nicht bewusst von uns entschieden wird, wird „Betrachten“ genannt. Wir werden uns gewahr, wie wir funktionieren und können dadurch bewusste Entscheidungen über unser Handeln treffen.Mit dieser inneren Haltung des Betrachtens und der daraus erwachsenen Offenheit für neue Eindrücke, sehen und hören wir mit neuen Augen und Ohren. Mir persönlich fällt das am leichtesten, wenn ich aus dem Urlaub zurückkomme. Dort habe ich die neue Landschaft, das andere Essen, unbekannte Gewohnheiten mit den neugierigen Augen eines Touristen betrachtet. Behalte ich diese Offenheit bei, kann ich auch in meiner gewohnten Umgebung ständig neue Dinge entdecken. Dies ist eine erste wesentliche Voraussetzung für echte Innovationen, dass man bereit ist, aus dem gewohnten Sehen und Hören auszubrechen, um Neues zu entdecken.
Für den nächsten Schritt ist die Voraussetzung, dass man innerlich wirklich bereit ist, in eine andere, ungewohnte Welt einzutauchen, für die man etwas Neues entwickeln möchte.Mit dieser inneren Bereitschaft wird man schließlich in dem ungewohnten, ja fremden Milieu neben der sinnlichen Wahrnehmung auch die Zwischentöne, die dort gültige Wirklichkeit spüren und ahnen können. Es braucht diese Offenheit, um den relevanten Kontext für die Innovation wirklich zu verstehen und zu begreifen. Wenn jemand etwa in einer wohl situierten Wohngegend zu Hause ist, die Nachbarn und Kolleg*innen ein gutes Einkommen erzielen, dann ist einem dieses Milieu gut bekannt. Man hält es möglicherweise sogar für normal. Hat man nun die Aufgabe, ein Wohnquartier mit bezahlbaren Wohnungen zu konzipieren, bietet es sich an, in solchen existierenden Quartieren im In- und Ausland eine Zeitlang zu wohnen und viel mit den Menschen zu sprechen bzw. sie zu beobachten. Dann können wir erst spüren, was die eigentlichen Bedürfnisse dieser Menschen sind. Dieses Eintauchen in ein unbekanntes Milieu ermöglicht uns völlig neue Einsichten.
Mit diesem nun breiteren Verständnis des Kontextes, für den die Innovation entwickelt werden soll, kann man die Sicherheit der eigenen Komfortzone verlassen und wirklich loslassen. Das erfordert zum Teil großen Mut und die innere Bereitschaft, sich auf einen neuen, unbekannten Weg zu machen und damit eine echte Innovation zu entwickeln. An dem unteren Wendepunkt (siehe obige Abbildung) brauchen wir nicht mehr die Vergangenheit in die Zukunft fortzuschreiben und damit in den bekannten Pfaden zu verharren. Wir sind bereit, unsere bestmögliche, wünschenswerte Vorstellung der Zukunft in die Gegenwart zu holen (Presencing) und damit ein viel größeres Potential für Neues anzuzapfen. Das ist vergleichbar mit einer Vision, die wir aus der Zukunft entwickeln und nicht in die Zukunft hineinprojizieren. An diesem Punkt erfolgt eine Umkehr (Metanoia) vom Nachahmer zum kreativen Schöpfer von wirklich Neuem, von Innovation. Das Tor, welches hier geöffnet wird, zum Kommen lassen als dem Gegenstück zum Loslassen, ist in wunderbarer Weise in dem folgenden Text von Pablo Picasso beschrieben:
Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuem.
Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer! Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen.
Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt. Was hier von Picasso beschrieben wird, ist die innere Haltung, die ein Schöpfer von Innovationen bzw. ein Kreativer hat, um eine Idee oder ein Produkt in die Welt zu bringen.
Dies geschieht in etwa so im nächsten Schritt, indem der Idee eine Gestalt bzw. eine Form gegeben wird. Das macht man aber nicht verkrampft oder rein planmäßig gemäß konkreten Vorgaben. Man nähert sich der Aufgabe eher spielerisch, so wie wir uns als Kinder spielerisch die Welt angeeignet haben durch Probieren, Verwerfen, Erneuern, Zerstören und neu Aufbauen. So werden wie die Kinder und dadurch neugierig und offen etwas Neues kreieren, ist das Motto in diesem Schritt.
Die Ergebnisse des spielerischen Probierens münden schließlich in einen Prototyp (Modellieren), der ein grobes Modell des künftigen Produktes darstellt.
Dieser ist aber noch lange nicht fertig, sondern lediglich ein erster Entwurf. Dieser wird schrittweise im Austausch mit den Kunden bzw. Nutzern verbessert. Das ist das gleiche Vorgehen der Iteration wie im Design Thinking. Man kann ohnehin sagen, dass der aufsteigende Arm in der Theorie U sehr stark dem Prozess im Design Thinking entspricht. Beim Prototyping steht uns allerdings die deutsche Kultur der Gründlichkeit und Perfektion oft im Wege. Wir trauen uns kaum mit halb fertigen Ideen in die Öffentlichkeit zu gehen und dann gemeinsam mit den Kunden den Prototypen weiter zu entwickeln.
Aber dieses Vorgehen ist deutlich ökonomischer als zu Ende zu entwickeln und dann erst zu testen. Alle Fehler oder falschen Fährten verbrauchen Zeit und Material. Daher gilt hier der Leitsatz „Fail early and often“. Da wir uns schrittweise an die echten Bedürfnisse herantasten und nicht auf Basis zahlreicher Annahmen am Bedarf vorbei entwickeln wollen.
Nach mehreren Iterationen und einer deutlichen Annäherung an die Bedürfnisse des Kunden, kann das fertige Produkt gebaut und nach erfolgreichem Test schließlich im Markt eingeführt werden.
Bislang haben wir nur den Prozess des U beschrieben. Darüber hinaus gibt es aber – insbesondere im Zusammenspiel mit dem inneren Prozess – noch drei Räume, die wir quasi als Potential in uns tragen. Unsere innere Haltung wird jeweils bereichert, wenn wir es schaffen, uns schrittweise Zugang zu diesen Räumen zu verschaffen. Dazu ist es erforderlich, die drei Kräfte bzw. „Stimmen“ zu überwinden, die uns davon abhalten wollen. Wir kennen solche Stimmen, die uns einreden, dass wir etwas nicht können oder dass wir perfekt sein müssen, bevor wir uns öffentlich dazu äußern. Man nennt diese Stimmen auch Glaubenssätze.
Die erste Stimme ist die des Urteilens (SdU). Wir urteilen gerne über andere, um das eigene Fehlverhalten nicht wahrnehmen zu müssen. Das ist unsere eingeübte Form der Verdrängung. Wenn wir diese Stimme überwinden, öffnen wir den Raum unseres eigenen Verstandes. Wir können mit eigenen und fremden Argumenten deutlich gelassener umgehen.
Die zweite Stimme ist die des Zynismus (SdZ). Diese hilft uns in schwierigen oder gar aussichtslosen Situationen, in denen wir wenig Einfluss haben, uns vor Verletzungen zu schützen. Mit diesem Mechanismus wehren wir gleichzeitig die damit einhergehenden Emotionen ab. Bei Überwindung der Stimme des Zynismus öffnen wir den Raum zu unserem Herzen, der uns empathischer mit Menschen und Situationen umgehen lässt. Wir können dann eher unseren selbstgebauten „Schutzpanzer“ zur Vermeidung von Verletzungen ablegen.
Die letzte der drei Stimmen ist die Stimme der Angst (SdA). Sie verhindert, dass wir ein zu großes Risiko eingehen und uns zu weit aus unserer Komfortzone herauswagen. Wenn wir diese Stimme überwinden, dann können wir alte Denkmuster, Vorurteile und Annahmen loslassen und sind in der Lage, Zugang zu unserem eigenen Willen zu erlangen. Hier liegen unsere eigene Schöpferkraft und Kreativität. Wenn wir es schaffen, diese Quelle zur Entwicklung neuer Ideen anzuzapfen, sind wir in der Lage, wirklich Neues zu schaffen und damit zur Innovation beizutragen. Die Öffnung der drei beschriebenen Räume kann man als schrittweise Erweiterung unseres Möglichkeitsraumes betrachten. Je größer dieser innere Raum, desto größer unser Potential der Schöpfungskraft. Darüber hinaus wirken sie auch auf unsere Haltung ein und machen uns dadurch innerlich für die äußere beschriebene Reise bereit.
Übung zu Sehen und Hören (Urlaubexperiment) Landschaft (Wasser, Felder, Bäume und Pflanzen, Topographie, Versiegelung, usw.) |
Übung zu Loslassen Hören Sie sich das Lied „Leichtes Gepäck“ von Silbermond an und notieren Sie dann, was alles Ihr persönliches Gepäck erleichtern könnte: https://www.youtube.com/watch?v=ohHJjPSsW8c |
Übung zur Überwindung der Angst Notieren Sie in einer geschützten Umgebung einmal alles, wovor Sie Angst haben. Dabei können Sie verschiedene Ebenen betrachten (z.B. gesellschaftlich, beruflich, familiär, persönlich). |
Übung zum eigenen Innovationsprozess Beobachten Sie sich einmal ganz persönlich: Wie gehen Sie an die Entwicklung von etwas Neuem heran? Haben Sie innere und äußere Schritte, arbeiten Sie sehr systematisch oder eher assoziativ oder keines von beiden? Brauchen Sie Musik, um inspiriert zu werden oder vollkommene Ruhe? Arbeiten Sie dann lieber alleine oder mit anderen gemeinsam im Team? |
Claus Otto Scharmer, Theorie U, Von der Zukunft her führen, 2009
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