In unserer letzten Notiz sind wir darauf eingegangen, wie wichtig psychologische Sicherheit für die Leistungsfähigkeit von Teams und für die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft von Organisationen ist. Dabei wurde deutlich, dass ein psychologisch sicherer Arbeitskontext ein Umfeld ist, in dem offen über eigene und fremde Fehler gesprochen werden kann, um aus ihnen zu lernen. Diesen Aspekt wollen wir in dieser Notiz vertiefen und beleuchten, warum Fehler für Unternehmen wichtig sind, wie man zwischen guten und schlechten Fehlern unterscheiden kann und wie man sinnvoll mit ihnen umgeht.
Viele Unternehmenslenker*innen wünschen sich, dass ihre Organisationen anpassungsfähiger werden, um mit volatilen Marktbedingungen und den sich schnell entwickelnden Kundenbedürfnissen Schritt zu halten. Dafür müssen Unternehmen schnell lernen können. Denn lernenden Organisationen fällt es leichter, neue Informationen zu erkennen, einzustufen und angemessen auf sie zu reagieren. Und dann wieder daraus zu lernen, ob die Reaktion das erwünschte Ergebnis erreicht oder verfehlt hat. So lernt das Unternehmen als Organismus, wie es sich verhalten muss, um zu überleben – oder noch besser: um erfolgreich zu sein; also zu wachsen und sich auszubreiten. Was hat das nun mit Fehlern zu tun? Ganz einfach: Wir Menschen, und damit auch unsere Organisationen, können lernen, wenn wir Fehler machen. Also, eigentlich. Natürlich beobachten wir auch immer wieder Menschen und Organisationen, die nicht wirklich aus ihren Fehlern lernen. Aber für gewöhnlich entstehen aus fehlendem Lernen größere, schlimmere Folgefehler – und spätestens aus diesen wird dann irgendwann gelernt.
In den letzten Jahren gab es einen richtiggehenden Hype um das Thema Fehler. Das Scheitern von Geschäftsideen und Unternehmern wurde regelrecht glorifiziert. Verkörpert wurde dieser neue Hype durch Fuck-up-Nights (kurz: FUN) und durch Prinzipien wie: Fail early, fail often, fail fast.
Daraus entstand in vielen Unternehmen leider auch ein naiver oder mitunter auch zynischer Umgang mit Fehlern – übrigens ähnlich wie beim Thema Agilität. Jemand hat einen Fehler gemacht? Super! Daraus lernen wir. Der Fehler war absolut vermeidbar? Egal! Fail fast und weiter geht’s.
Ursprünglich war die Bewegung hin zu einem neuen Umgang mit Fehlern löblich. Wie es jedoch oft so ist, kippte das gut gemeinte Feiern von Fehler über in einen undifferenzierten Umgang mit Fehlern, der es inzwischen eher schwierig macht, das Thema mit der notwendigen Nuanciertheit zu betrachten.
Wie gut, dass es Konzepte gibt, die sich nicht vom Populismus der Extreme verwirren lassen, sondern einen differenzierten Blick auf eine komplizierte Thematik ermöglichen.
In diesem Fall kommt eines dieser hilfreichen Differenzierungen von Amy Edmondson, der Harvard-Professorin, die Sie aus unserer letzten Notiz bereits als eine der Urheberinnen der psychologischen Sicherheit kennen. Sie hat sich das Thema „Fehler in Organisationen“ genauer angeschaut und auf die Frage oben können wir auch dank ihr antworten: Nein, nicht alle Fehler sind gute Fehler!
Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Fehlern. Amy Edmondson unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Fehlerkategorien:
1. Vermeidbar: Dies sind schlechte Fehler. Sie entstehen beispielsweise, wenn jemand von einer vorgeschriebenen Routine in einer Fließbandproduktion abweicht. Statt mit drei Schrauben befestigt er ein Bauteil nur mit zweien. Eine unnötige Abweichung, die ernsthaften Schaden verursachen kann und mit ausreichend Einarbeitung ganz einfach vermeidbar ist.
2. Unvermeidbar: Viele Fehler sind nicht vermeidbar. Sie passieren nicht, weil jemand vom Standard abweicht, sondern weil es noch keinen Standard gibt. Ein Individuum oder Team, das sich in einer komplexen und nicht einstudierten Situation befindet, wird Fehler machen. Da diese Fehler unvermeidbar sind, sind sie nicht inhärent schlecht. Sie müssen nur rechtzeitig erkannt und geteilt werden, um Folgefehler zu vermeiden. Denn Folgefehler sind meist vermeidbar – und damit auch schlecht.
3. Intelligent: Intelligente Fehler sind gute Fehler. Sie passieren in Situationen, in denen wir experimentieren müssen, da wir neues Terrain erkunden. Und hier gilt tatsächlich: Aus Fehlern lernen wir und jeder Fehler bringt uns ein Stück weiter – daher müssen wir sie möglichst schnell machen.
Um diese Fehlerkategorien genauer zu verstehen und zuzuordnen, hilft es, das Cynefin-Framework zu Rate zu ziehen. Das Cynefin-Framework ist ein beliebtes Instrument, um herauszufinden, in welcher Art von Kontext man sich befindet. Es unterscheidet zwischen 4 bzw. 5 sogenannter Domänen:
1. Simpel oder klar: Ein Umfeld, in dem Ursache und Wirkung klar zu erkennen und zuzuordnen sind. Da wir die Kausalitäten sehen können, können wir logische Maßnahmen ergreifen.
2. Kompliziert: Ein Kontext, in dem es einer Analyse bedarf, um zu verstehen, wie etwas zustande kam. Wenn wir den Zustand untersuchen und verstehen, können wir die richtigen Maßnahmen ergreifen.
3. Komplex: Ein eigendynamisches Umfeld mit vielfältigen zusammenhängenden Faktoren, das nicht exakt erfasst werden kann. Hier müssen wir systematisch neue Herangehensweisen, z.B. mittels agilen Managements, ausprobieren, um daraus zu lernen.
4. Chaotisch: Ein eigendynamisches System, in dem zufällige Dinge passieren können und dessen Verhalten nicht prognostizierbar ist. Und in dem wir neue Methoden testen müssen, um Probleme zu lösen.
5. Unklar: Ein Zustand, in dem wir unser Umfeld keiner der 4 Domänen zuordnen können.
Schauen wir uns die drei Fehlerkategorien von Amy Edmondson an, so leiten wir ab: Vermeidbare Fehler passieren in simplen und in komplizierten Umfeldern. Unvermeidbare Fehler in komplexen Kontexten. Und intelligente Fehler vor allem in komplexen und chaotischen Kontexten. Aus der Kombination der Fehlerkategorien von Edmondson und dem Cynefin-Framework von Snowden ergibt sich eine einfache Darstellung, die Ihnen helfen kann, Fehler richtig einzuordnen.
Abbildung: Umgang mit Fehlern in unterschiedlichen Kontexten (i. A. a. Edmondson und Snowden/Boone)
Die Realität sieht oft so aus, dass mit fast allen Fehlern gleich umgegangen wird – dem Fehlerverursacher wird Schuld zugewiesen. Nun wissen wir alle, wie es sich anfühlt, wenn einem die Schuld zugewiesen wird. Und weil das so ist, versuchen wir meist, Fehler zu vermeiden, oder, wenn sie bereits passiert sind, diese zu vertuschen.
Das ist verständlich, aber wenig hilfreich, denn so kann eine Organisation nicht lernen. Wer zu lange nach Sicherheit sucht, bevor er seinen nächsten Schritt wagt, wird langsam. Und wer seine Fehler vertuscht, wird irgendwann erwischt und bestraft. Das gilt für Individuen, wie auch für Unternehmen.
Aus der Graphik wird deutlich: Es gibt kritische Fehler. Diese müssen erkannt, angesprochen und konsequent abgestellt werden. Sie können vermieden werden, indem Checklisten entwickelt, Standardverhalten trainiert und Routinen eingeschliffen werden. Und indem auf kontinuierliche Verbesserung durch Fehlerreduktion und Effizienzerhöhung abgezielt wird. Exzellente Prozesse und Methoden kennen wir aus dem Lean Management oder dem Toyota Production System.
Bei Fehlern in komplizierten Umfeldern müssen Ursachenanalysen durchgeführt und aus diesen umsetzbare Maßnahmen abgeleitet und implementiert werden. Dadurch kann ihre Wirksamkeit getestet und validiert werden. Meist entpuppen diese Ursachenanalysen erst, ob eine Ermahnung notwendig ist.
In komplexen Kontexten ist es wichtig, Fehler als etwas Normales einzustufen und einen Rahmen zu fördern, in dem Fehler sofort geteilt werden, um schnelles Lernen und Anpassen zu ermöglichen. Da Fehler in diesem Kontext unvermeidbar sind, sollten Fehlerverursacher logischerweise keine Konsequenzen befürchten müssen, sondern in ihrem transparenten Handeln unterstützt werden. Aber: Auch ein übermäßiges Feiern von Fehlern finden wir in dieser Kategorie unangebracht – eher ein nüchterner, konstruktiver und empirischer Umgang.
In zunehmend chaotischen und unbekannten Kontexten sind Fehler dann intelligent, wenn sie aus einem gezielten Test entstehen. Hier bringen Fehler stets neue Erkenntnisse und intelligente Fehler können daher auch gefeiert werden. Gerade in diesen Kontexten müssen also Experimente und Pioniergeist gefördert werden – und das geht nur, wenn vermeintliche Fehler nicht bestraft werden und Menschen keine Furcht vor arbeitsrechtlichen (Abmahnung), finanziellen (Prämienverlust) oder sozialen Konsequenzen (Exklusion) haben müssen.
Wenn Sie den Kontext verstehen, in denen Sie oder Ihr Team sich befinden, dann verstehen Sie auch, mit welcher Art von Fehlern Sie es meistens zu tun haben und wie Sie mit diesen umgehen können. Aber Achtung: Kontexte wandeln sich. Und auch explorative Teams können vermeidbare Fehler machen, z.B. wenn sie ein Experiment nicht gut oder unaufmerksam vorbereiten.
Bewerten Sie daher eher Einzelsituationen anstatt Teams oder ganze Unternehmensbereiche in die Komplexitätsschublade zu stecken und Fehler blind zu feiern. Nehmen Sie sich die kommenden Tage doch bewusst die Aufgabe mit, genau darauf zu achten, in welchen Situationen Fehler entstanden sind – und wenden Sie Ihr neu erlerntes Wissen über den Umgang damit direkt an.
Edmondson, A. (2011) Strategies for Learning from Failure. Harvard Business Review
Snowden, D.; Boone, M. (2007) A Leader's Framework for Decision Making. Harvard Business Review
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